13. Oktober 2021

Prekäre Lebensrealitäten im Fokus – Armutsforschung zwischen Krise und Resilienz

Prekäre Lebensrealitäten im Fokus – Armutsforschung zwischen Krise und Resilienz

Von April 2021 bis September 2021 wurde mit Unterstützung der Arbeiterkammer Tirol, Team Österreich Tafeln und unicum:mensch Tirol, der Versuch unternommen Menschen, die im Zuge der Pandemie schwierige Zeiten durchgemacht haben, gravierende finanzielle Einschnitte erlebt haben, mit Abstiegsängsten bzw. –erfahrungen oder auch Wohnungsverlust bzw. der Sorge darum konfrontiert waren, eine Stimme zu geben. Viele der befragten Personen haben während der Pandemie ihre Arbeit verloren, sind in finanzielle Notlagen geraten oder Einkommens- und Ausbildungsmöglichkeiten sind weggebrochen. In Summe wurden 48 Interviews mit Betroffenen durchgeführt. Miteinbezogen wurden zudem die Erfahrungen und Perspektiven von 19 Akteurinnen und Akteuren beratender und sozialdienstleistender Instanzen der Tiroler Soziallandschaft.

Die Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19 Pandemie haben in erster Linie bereits bestehende Probleme verschärft. Besonders hervorzuheben ist hier der Mangel an leistbaren Wohnraum der für nahezu alle Befragten eine massive finanzielle und psychische Belastung darstellte und teilweise von Delogierungsängsten begleitet wurde.

„Wohnraum ist unendlich teuer in Tirol, Eigentum schon fast utopisch“

„Wir konnten zwei Monate nicht bezahlen, Gott sei Dank ist unsere Vermieterin nett, sie hat gewartet“

Der erlebte finanzielle Abstieg, bedingt durch Übergänge in Teilzeit- und Kurzarbeit bis hin zum Arbeitsplatzverlust, in Verbindung mit der Verlagerung von Versorgungs- und Bildungsarbeit in private Haushalte, bedeutete in vielen Fällen in die Abhängigkeit von institutionellen Unterstützungsleistungen zu geraten. Aus den subjektiven Erfahrungen heraus wurden die für das Abfedern der Effekte der Pandemie angedachten Unterstützungsangebote durchwegs als unzureichend bewertet. Es fehlte an spezifischen Informationen und Anlaufstellen, der bürokratische und zeitliche Aufwand wurde als sehr hoch bewertet, Berechnungsgrundlagen und die Berücksichtigung von individuellen Umständen waren zu gering und zuletzt stellte die Verschiebung von Beratungen und Anträgen in den digitalen Raum eine Hürde dar. Etwas das besonders auch für zukünftige Bestrebungen der Digitalisierung von Unterstützungsanträgen zu berücksichtigen ist.

„Man hat schon oft das Gefühl, das ist ein komplettes Labyrinth.“

„Ich bin müde von Beratungen, weil man im AMS die Formulare ausfüllt, aber keiner sagt dir ALLES. Die Arbeitnehmer sind immer die Beschissenen“

„Hab mir das durchgerechnet mit dem Härtefallfond. Ist so kompliziert da rentieren sich die paar Hundert Euro nicht mehr“

Neben der Zunahme an formalen Schulden (z.B. Bankenkredite) und informellen Verbindlichkeiten (z.B. Schulden bei Familienmitgliedern), die nicht zwangsläufig zu problematischen Schuldenkarrieren führen, war der Zugriff auf eigene Rücklagen häufig die einzige Strategie Einkommensausfälle zu überbrücken. Solch persönliche Zukunftsdarlehen vermieden zwar die Anhäufung von Schulden, entzogen jedoch die finanzielle Grundlage für die Zukunftssicherung, was häufig zu Perspektivenlosigkeit und Zukunftsängsten führte.

„Man erspart sich halt null, im Gegenteil, man zahlt eigentlich jeden Monat ein paar hundert Euro vom Ersparten ein.“

„Man kann sich nichts ansparen, um vielleicht mal ein Eigenheim zu kaufen oder irgendwas zu finanzieren.“

Der Abstieg in prekäre Situationen in Verbindung mit der erlebten sozialen Isolation, dem erhöhten finanziellen Druck und dem Strukturverlust führte in einigen Fällen zur Verschärfung der psychischen Situation. Betroffenen, die dabei von einer stationären Behandlung absahen, blieb häufig nur monatelange Wartezeiten in Kauf zu nehmen und darauf zu hoffen, dass sich die Situation nicht weiter verschärft. Dies rückt den Kapazitätsmangel in der Versorgung und Beratung von Menschen mit psychischen Problemstellungen in den Fokus. Es fehlen in Tirol kassenfinanzierte Therapieangebote (z.B. Modellplätzte), da private Anbieter schwer bis gar nicht leistbar sind.

„Wir hatten viel mehr Patienten, die nicht zu unseren üblichen Patienten gehören, weil sie in klassischen Akutsituation waren: Gewaltkrisen Zuhause, Insolvenz, Jobverlust, Scheidungen.“

„Es ist jeden Tag noch ärger geworden. ich habe dann auch Panikattacken gehabt und Angstzustände, ich habe gar nichts mehr können.“

Personen die sich bereits vor der COVID-19 Pandemie in prekären oder fragilen Lebenssituationen befanden, wurden von Nebeneffekten der Grenzschließung getroffen, hier fiel die Möglichkeit, sich günstiger mit Lebensmitteln und sonstigen Konsumgütern außerhalb von Tirol zu versorgen, weg. Die Lebenserhaltung wurde so schlagartig teurer und trug, ohne Einkommenseinbußen, zur Verschärfung der finanziellen Situation von Haushalten bei.

„Alles hat sich verändert, alles ist zu, die Grenzen sind zu, im Grunde ist man nicht mehr frei. Ich kann nicht mal mehr Essen kaufen gehen über der Grenze […] haben wir vorher gemacht. War immer billiger.“

Zuletzt belastete die Prekarisierung durch COVID-19 soziale Netzwerke und Familien. Finanzielle Engpässe führten dazu, dass Freunde und auch Familienmitglieder von den bisherigen Wohnorten weggezogen sind. Auch war der Rückzug aus gemeinschaftlichen Tätigkeiten, da sie schlicht nicht mehr leistbar waren, eine häufige Praxis zur Vermeidung von Ausgaben. In manchen Fällen wurde die Familienplanung aufgeschoben und bestehende geschlechterspezifische Rollenbilder verdichteten sich, d.h die Mehrbelastung von Müttern durch die Übernahme der Versorgungs- und Bildungsarbeit von kinderbetreuenden Einrichtungen und Schulen stieg. Besonders nach dem zweiten Lockdown nahm die Frequenz an Frauen mit häuslicher Gewalterfahrung zu. Aufgrund der Verschärfungen durch die Pandemie war eine eigenständige Versorgung (besonders Wohnraum) nicht gewährleistet und Frauen verblieben in gewaltgezeichneten Beziehungen.

„[…] ein Kind, das ist mein Wunsch. […] Ich habe keinen Familienplan. Ich kann meinen Kindern kein gutes Leben anbieten.“

„Überlastungen […] speziell die Frauen […] wir haben eine stark ansteigende Zahl an Gewalt. Die Formen von Gewalt haben sich auch schon im zweiten Lock Down gezeigt, mit verbalen Übergriffen. Mittlerweile gibt’s sexuelle Gewalt und Gewalt gegen Kinder.“

 

Wenn Ihr Interesse geweckt wurde, findet zu den genannten und weiteren Themen ein Seminar zu ‚Prekäre Lebensrealitäten im Fokus – Armutsforschung zwischen Krise und Resilienz‘ im Zuge der Seminarreihe Armut aktuell statt.

Information und Eckdaten zur Seminarreihe:

Termin: Freitag, 05. November 2021, 14.00-18.00 Uhr

Ort: Haus der Begegnung, Rennweg 12, 6020 Innsbruck

Anmeldung: info@unicummensch.org / 0664 5846661

Eintritt frei: bitte 3G Nachweis beachten

Für weitere Fragen steht ihnen das Projektteam gerne zur Verfügung:

Projektleiter Lukas Kerschbaumer, BA, MA

Center for Social & Health Innovation

+43 512 2070 – 7421

lukas.kerschbaumer@mci.edu

Sascha Gell, BA, MA

Center for Social & Health Innovation

+43 512 2070 – 4723

sascha.gell@mci.edu

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Prekäre Lebensrealitäten im Fokus – Armutsforschung zwischen Krise und Resilienz. Foto: © Pexels

Prekäre Lebensrealitäten im Fokus – Armutsforschung zwischen Krise und Resilienz. Foto: ©Pexels

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